Björn ist kurzerhand zu seiner neuen Freundin, die er noch nicht einmal ein Jahr kennt, in ein anderes Land gezogen. Seinen digitalen Job kann er auch von dort ausüben. Kerstin hat ihre Bahntickets für die Dienstreise nächste Woche immer noch nicht gebucht. Zum wiederholten Mal hat sie zwei Zugverbindungen gecheckt. Bei dem früheren Zug hat sie mehr Puffer, falls es wieder zu Verspätungen kommt. Aber wenn nicht, dann hat sie Wartezeit am Zielort. Also doch lieber die spätere Verbindung? Doch wenn dann wieder der Anschluss nicht klappt, wäre sie zu spät. Kerstin schwankt hin und her und kann sich nicht festlegen.
Menschen sind verschieden
Die Leichtigkeit oder Schwere, mit der wir Entscheidungen fällen, hängt auch mit der Persönlichkeit zusammen. Das bedeutet, dass jede Person einen eigenen Level von Entscheidungsfreude hat, der über lange Zeiträume gleichbleibt. Natürlich hat das Entscheidungstempo auch mit der Art der Entscheidung zu tun. Zwischen Menus auf der Speisekarte zu wählen, ist wahrscheinlich für jeden leichter als zwischen zwei Jobangeboten, die beide verlockend sind. Doch der Persönlichkeitsanteil sorgt dafür, dass für die entscheidungsgehemmteren Menschen auch die Menüwahl anstrengend sein kann.
Im obigen Beispiel hatte ich bewusst gegenläufige Situationen ausgewählt: Der Umzug in ein anderes Land wird im Durchschnitt bestimmt als schwerere Entscheidung eingeschätzt, trotzdem hat Björn sie ohne Weiteres getroffen. Die Reaktionen aus seinem Bekanntenkreis reichten von „Cool! Der tut wenigstens was.“ bis zu „Das kann doch nicht gut enden.“ Was schon einmal klar macht, dass eine leicht getroffene Entscheidung nicht unbedingt eine gute Entscheidung sein muss.
Andererseits wird die Entscheidung über eine Zugverbindung für die meisten Menschen eher etwas Leichteres sein. Wenn Kerstin hier schon so lange braucht, dann lädt sie sich mit dem wiederholten Hin- und Herüberlegen eine Menge vermeidbaren Aufwand auf die Schultern. Dieser Stress bleibt, auch wenn die Entscheidung letztlich optimal wird.
Persönlichkeitseigenschaft "Gewissenhaftigkeit"
Dieses sich schwer Tun mit Entscheidungen weist einen hohen Zusammenhang mit der Persönlichkeitseigenschaft „Gewissenhaftigkeit“ auf. Das ist eine der Eigenschaften des klassischen Persönlichkeitsinventars „Big 5“, ein beschreibender Persönlichkeitsfragebogen, der die Persönlichkeit in fünf Bereiche gliedert:
- Neurotizismus, emotionale Labilität
- Extraversion
- Offenheit für Neues
- Verträglichkeit
- Gewissenhaftigkeit.
Was bedeutet nun Gewissenhaftigkeit? Das Big 5 – Persönlichkeitsmodell beschreibt sie mit den Facetten
- Kompetenz
- Ordnungsliebe
- Pflichtbewusstsein
- Leistungsstreben
- Selbstdisziplin
- Besonnenheit
Das klingt doch alles sehr positiv! Wie ist es denn verstehen, dass Gewissenhaftigkeit mit so mühevollen Entscheidungen einhergeht?
Erklärungsansatz „Sicherheitsstreben“
Pflichtbewusstsein, Selbstdisziplin und Besonnenheit sind beispielsweise Eigenschaften, die Fehlern und Versagen vorbeugen. Wenn wir ein starkes Motiv haben, dass nichts aus dem Ruder läuft, dann achten wir auf Pflichten, lassen uns nicht gehen und überlegen lieber zweimal. Genau! Leichtfertiges Handeln und Entscheiden würde unsere gefühlte Sicherheit und Kontrolle über die Dinge gefährden.
Solche psychischen Antreiber kann man sich vorstellen wie Straßenschilder ohne Entfernungsangaben: „Nach Aachen hier links abbiegen! ... und dann endlos weiterfahren, bis man vor dem Atlantik steht“. Bei den stark gewissenhaften Persönlichkeiten kann eine innere Dynamik vorherrschen, die eine Fehlervermeidung um jeden Preis anstrebt. Auf jedes Risiko wird dann mit Ängstlichkeit reagiert. Eine solche Ängstlichkeit könnte Kerstin abhalten, auf den „Jetzt buchen“-Knopf zu klicken.
Erklärungsansatz "Perfektionismus"
Die Facetten Kompetenz und Leistungsstreben zeigen eine weitere Möglichkeit auf. Schwerfällige Entscheidungen können auch durch eine innere Dynamik erzeugt sein, die alles überoptimieren will. Wieder kann man sich die „fehlende Kilometerangabe“ vorstellen: ein hoher persönlicher Leistungsstandard ist nicht per se schlecht, doch, wenn wir perfekt sein wollen, bremsen wir uns aus. Jede gute Entscheidung verhindert die noch bessere Lösung, also vermeiden wir es, uns festzulegen, und suchen weiter und schwanken hin und her.
Ein solches psychisches Schema „Perfektionismus“ kann entstehen, wenn ein Kind nicht in seiner eigenen Art und Weise akzeptiert und geliebt wird. Dann entscheidet es sich, Anerkennung durch Leistung zu bekommen. Die ursprüngliche Verletzung wird verdrängt und überdeckt, bleibt aber unbewusst aktiv und sorgt für die drängende Unruhe, die eine Entscheidung niemals gut genug sein lässt.
Die inneren Zusammenhänge können aber auch andere sein, jeder Mensch ist individuell. Es lohnt sich immer, die eigenen inneren Schemata zu erkunden und seine Persönlichkeitsaspekte besser zu integrieren! Das geht bis ins hohe Alter.
Sich selbst kennen
Jeder findet sich ja normal, deshalb ist als erster Schritt zu empfehlen, sich realistisch einzuschätzen: Wie leicht oder schwer tue ich mich denn mit Entscheidungen? Dazu ist das Feedback von anderen hilfreich, denn dadurch lässt sich vergleichen, ob diese mit Entscheidungen schneller fertig werden oder nicht.
Wenn Sie gespiegelt bekommen, dass Entscheidungen Ihnen mehr Mühe machen als dem Durchschnitt, dann ist die erste spontane Reaktion oft, ein solches Feedback abzulehnen oder zu bagatellisieren. Doch ich empfehle Ihnen, noch weitere Rückmeldungen einzuholen. Und falls die ähnlich lauten, versöhnen Sie sich mit der Art, wie Sie eben sind: „Es ist gut, wie sich meine Persönlichkeit strukturiert hat, um mir zu helfen, gut durchs Leben zu kommen.“ Wertschätzen Sie den positiven Wert der Gewissenhaftigkeit UND machen Sie sich auf einen Weg, auch gegenteilige Eigenschaften wie Flexibilität und Risikofreude zu entwickeln.
Fragen Sie mich für ein Coaching gerne an!
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